Taktische Medizin

Dieses fiktive Szenario schildert beispielhaft einige wichtige Grundsätze der taktischen Medizin. Es basiert auf dem Zonenkonzept nach NAEMT und orientiert sich an realistischen Einsatzabläufen, wie sie im Rahmen von TECC-Ausbildungen vermittelt werden.

Active Shooter im Einkaufszentrum

Vor dem Einkaufszentrum “CityPark” herrscht Chaos. Mehrere Streifenwagen stehen quer zur Fahrbahn, die Türen offen, Maschinenpistolen auf Anschlag. Rettungsfahrzeuge haben seitlich Stellung bezogen, einige Sanitäter tragen ballistische Westen und Helme. Aus Seiteneingängen werden Verletzte auf Tragen evakuiert, begleitet von TECC-Kräften in taktischer Schutzkleidung. Auf dem Parkplatz kauern Verletzte, einige werden notdürftig mit Tourniquets und Verbänden versorgt, während andere weinend telefonieren oder nach Angehörigen suchen.

Lage beim Einkaufszentrum

14:02 Uhr – Alarmierung

Mehrere Notrufe gehen bei der Polizei ein. Zeugen berichten von Schüssen im Einkaufszentrum “CityPark”. Menschen fliehen in Panik auf den Parkplatz, einige stürzen, andere verstecken sich in umliegenden Geschäften. Die Einsatzleitung stuft die Lage umgehend als “Active Shooter” ein und alarmiert zusätzlich Feuerwehr, Rettungsdienst und taktische medizinische Kräfte gemäß TECC-Standard.

14:08 Uhr – Eintreffen der Polizei

Die ersten beiden Polizeistreifen treffen am Haupteingang des Zentrums ein. Noch während der Anfahrt war klar geworden, dass es sich nicht um einen Einzeltäter handelt: Zeugenaussagen deuten auf zwei bewaffnete Personen im Gebäude hin. Vor dem Eingang treffen die Beamten auf flüchtende Passanten, die rufen: “Da drin sind zwei, einer mit Messer, einer mit Gewehr!”. Die Polizisten sichern den Eingangsbereich mit Maschinenpistolen, können aber zunächst keinen Sichtkontakt zu den Tätern herstellen.

Der gesamte Innenbereich des Einkaufszentrums gilt zu diesem Zeitpunkt als Direct Threat-Zone. Ein Betreten durch medizinisches Personal ist ausgeschlossen. Die primäre Priorität liegt nun auf dem “Stop the killing” – also der Neutralisierung der Täter.

14:11 Uhr – Bestätigung: Zwei Täter aktiv

Eine Frau mit Stichverletzungen flüchtet aus einem Seiteneingang. Sie wird von zufällig anwesenden First Respondern versorgt – drei Personen, die privat vor Ort sind und über TECC-Ausbildung verfügen. Sie bringen die Frau in eine sichere Deckung, legen ein Tourniquet an und melden die Lage über ihr Mobiltelefon weiter.

Die taktische Führung liegt bei der Polizei. Die TECC-Kräfte, die sich am Bereitstellungsraum einfinden, stehen in Wartestellung. Aus dem Inneren sind weiterhin Schüsse zu hören. Für medizinisches Personal gilt weiterhin: keine Bewegung in den gefährdeten Bereich.

14:28 Uhr – Täter 1 neutralisiert

Eine Interventionsgruppe der Polizei, die aufgrund eines parallel laufenden Einsatztrainings schnell verfügbar war, kann in das Gebäude eindringen. Im Bereich des Erdgeschosses wird ein Täter gestellt und im Zuge des Zugriffs ausgeschaltet. Die Einsatzleitung stuft diesen Bereich nun als Indirect Threat-Zone ein. Das bedeutet: begrenzter Zugang für medizinische Kräfte unter polizeilichem Schutz ist möglich.

Ein TECC-Team wird in das Gebäude geführt. Bereits in der Nähe des Food Courts finden sie zwei verwundete Personen. Es erfolgt eine schnelle Beurteilung nach dem MARCH-Schema.

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MARCH-Schema

Das MARCH-Schema ist eine strukturierte Vorgehensweise zur Priorisierung lebensrettender Maßnahmen:

  • Massive bleeding: Lebensbedrohliche Blutungen stillen (z. B. Tourniquet, Wound Packing)
  • Airway: Atemweg sichern und offen halten
  • Respiration: Atmung überprüfen, ggf. Thorax entlasten
  • Circulation: Kreislauf stabilisieren, Schock erkennen
  • Hypothermia/Head injury: Wärmeerhalt und Behandlung möglicher Kopfverletzungen

Bei einer der Personen wird ein Tourniquet angelegt, bei der anderen eine Thoraxverletzung mit Okklusionsverband versorgt. Weitere Maßnahmen wie Infusion oder Atemwegssicherung erfolgen nicht – stattdessen schnelle Evakuation.

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Untersuchung im Einsatz – “Treat as you go”

In taktischen Lagen gilt: Zeit ist Leben. Kleidung wird möglichst nicht aufgeschnitten, um nicht unnötig Zeit zu verlieren oder Schutzschichten zu entfernen. Stattdessen wird mit Handschuhen unter die Kleidung gefühlt, um nach Ein- und Austrittswunden zu tasten.

Wird dabei eine Wunde entdeckt, erfolgt die Versorgung sofort – z. B. durch Abdecken oder Wound Packing. Danach wird die Untersuchung fortgesetzt. Dieses Vorgehen nennt sich “Treat as you go” – versorgen, was man findet, ohne Verzögerung.

Ziel ist nicht die vollständige Diagnostik, sondern das Erkennen und Behandeln unmittelbarer Lebensgefahr. Danach erfolgt die zügige Evakuierung aus der Gefahrenzone.

14:36 Uhr – Einrichtung des Verwundetennests

Am Seiteneingang wird ein Verwundetennest eingerichtet. Feuerwehr und Polizei sichern den Bereich. Verletzte werden durch TECC-Kräfte dorthin verbracht. Dort findet eine strukturierte Sichtung statt. Es wird nicht reanimiert – auch eine stark blutende Person mit nicht tastbarem Puls wird als verstorben deklariert.

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Triage

In taktischen Einsatzlagen entscheidet die Triage über die Behandlungspriorität. Ziel ist es, mit begrenzten Mitteln möglichst viele Überlebensfähige zu retten.

Eine Reanimation nach Trauma – insbesondere bei massiver Blutung und fehlendem Puls – gilt als aussichtslos, wenn keine sofortige chirurgische Versorgung möglich ist. Die Maßnahme ist zeitintensiv und bindet Personal, das an anderer Stelle Leben retten könnte.

Stattdessen wird im Zweifelsfall versucht, bei fehlender Atmung beidseitig eine Entlastungsdrainage zu legen. Wenn kein Erfolg eintritt, erfolgt keine Reanimation – ganz im Sinne der taktischen Triageentscheidung.

14:47 Uhr – Täter 2 ergibt sich

Polizei kann den zweiten Täter in einem Ladengeschäft stellen und festnehmen. Die unmittelbare Bedrohung ist gebannt. Die Lage wird als unter Kontrolle gemeldet. Das Einkaufszentrum wird nun vollständig zur Evacuation Care Zone erklärt.

TECC-Kräfte begleiten die polizeiliche Nachsuche, überprüfen Verwundete auf vergessene Verletzungen (“secondary survey”) und übergeben die Patienten an den eintreffenden Rettungsdienst.

15:05 Uhr – Abschlussmeldung / Debriefing

Insgesamt wurden sieben Verletzte registriert, davon drei schwer. Eine Person verstarb noch im Direct Threat Care – keine Reanimation. Es wurden insgesamt drei Tourniquets angelegt, zwei Atemwegssicherungen vorgenommen und eine Thoraxverletzung stabilisiert. Die Polizei bleibt führende Instanz vor Ort, Kriminaltechnik übernimmt den Tatort.

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