Und doch…
- Braucht Microsoft Teams 1,5 GB Arbeitsspeicher, nur um ein Chat-Fenster anzuzeigen.
- Bauen wir Kubernetes-Cluster, die komplexer sind als ein Atomkraftwerk, nur um eine Webseite auszuliefern, die früher ein einzelner Apache-Prozess nebenbei erledigt hat.
- Kaufen wir Grafikkarten, die 450 Watt verbrauchen und so groß sind wie Ziegelsteine, und nennen das “Fortschritt”.
Willkommen im Museum der vergessenen Vernunft
Lass uns eines gleich zu Beginn klarstellen: Nein, früher war nicht alles besser.
Niemand, der bei Verstand ist, will ernsthaft zurück zu 9600-Baud-Modems, die klingen wie sterbende Roboter. Niemand will Indizes auf einer 20-MB-Festplatte reparieren oder tagelang auf einen Compiler-Lauf warten. Das Mühlrad der Zeit hat sich weitergedreht, und es hat uns Wunderwerke wie Glasfaser, NVMe-SSDs und künstliche Intelligenz gebracht.
Aber…
Wir hatten früher Lösungen, die für ihre Zeit besser waren, als das, was wir heute für dasselbe Problem gebaut haben. Wir haben Probleme, die Solaris, VMS oder sogar der C64 schon vor Jahrzehnten elegant und ressourcenschonend gelöst hatten, noch einmal gelöst – nur diesmal schlechter, komplexer und verschwenderischer.
Die Diagnose: Technologie-Amnäsie
Ich nenne dieses Phänomen Technologie-Amnäsie.
Es ist der kollektive Gedächtnisverlust unserer Branche.
- Wir haben Effizienz gegen Bequemlichkeit getauscht.
- Wir haben Besitz gegen Abo-Modelle getauscht.
- Wir haben Ingenieurskunst gegen Marketing-Hype getauscht.
Wir feiern heute einen “Cloud-Native Kubernetes Cluster”, um eine statische Webseite auszuliefern, die ein 20 Jahre alter Apache-Server nebenbei im Schlaf erledigt hätte. Wir akzeptieren, dass eine Chat-App (Teams) mehr RAM frisst als das Betriebssystem, das uns zum Mond brachte.
Warnung
Wer glaubt, dass technischer Rückschritt unmöglich ist, sollte Lucio Russo lesen: “Die vergessene Revolution”. Er zeigt minutiös auf, dass wir in der Antike schon einmal fast an der Schwelle zur modernen Wissenschaft standen. Wir hatten die Mathematik, die Mechanik, die Modelle. Dann haben wir es vergessen. Für 1500 Jahre. Wir halten unser heutiges Wissen für sicher, weil es “in der Cloud” ist. Aber wenn das Wissen in proprietären Formaten, hinter Paywalls und in unlesbaren Code-Wüsten vergraben liegt, ist es genauso gefährdet wie die Schriftrollen von Alexandria. Amnäsie ist kein Unfall. Sie ist eine Konsequenz aus Nachlässigkeit.
Die Frage der nächsten 24 Tage
In diesem Adventskalender werde ich jeden Tag ein Türchen öffnen. Es wird oft sarkastisch, manchmal technisch tief und meistens schmerzhaft ehrlich.
Aber das Ziel ist nicht Nostalgie. Das Ziel ist eine Frage, die uns alle umtreiben sollte:
Können wir die fantastischen Technologien von heute (KI, schnelles Silizium, globales Netz) noch besser nutzen, wenn wir die Werte von damals (Effizienz, Robustheit, Einfachheit) wieder auf sie anwenden?
Stell dir vor: Die Power von heute mit der Disziplin von damals. Wir wären nicht aufzuhalten. Doch im Moment stehen wir uns selbst im Weg. Warum das so ist – und wo die Leichen im Keller der IT-Geschichte liegen –, das schauen wir uns ab morgen an.
Anschnallen. Es könnte wehtun. Aber es wird heilsam.
Dieser Artikel ist der Auftakt zur Serie “Technologie-Amnäsie”. Alle Türchen findest du unter /tags/techamnesia.

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