Vom Schöpfer zum Atem der Welt
Nehmen wir Chemie. Ein Natriumatom kann nicht anders, als mit Wasser heftig zu reagieren – es liegt in seiner Natur. Das ist keine Laune eines Schöpfergottes, das ist die göttliche Ordnung im Ding selbst. Genauso trägt jeder Baum, jedes Tier, selbst ein bemooster Stein seine Würde in sich. Das Göttliche ist nicht irgendwo außerhalb, sondern wohnt in den Dingen, weil sie gar nicht anders sein können, als das zu leben, was sie sind.
Und schauen wir ins Handwerk: Eine Schraube ist nicht nur eine Erfindung unter vielen. Sie ist das verbindende Element, das Holz, Metall oder Kunststoff zu einem neuen Gegenstand zusammenführt. In ihr steckt die uralte Idee der schiefen Ebene, der ältesten Maschine der Menschheit, nur eben kunstvoll auf eine Achse gewickelt. Kein Wunder, dass wir denselben Spiralgedanken im Aeskulapstab wiederfinden – jenem Symbol der Heilkunst, das seit Jahrtausenden als göttliches Zeichen gilt.
Spinoza: Gott oder Natur
Baruch de Spinoza, 17. Jahrhundert, Amsterdam. Jude, später verstoßen aus seiner Gemeinde, weil er zu unbequem dachte. Einer, der lieber Linsen schliff, um Mikroskope und Teleskope herzustellen, als sich von der Macht der Kirchen gängeln zu lassen. Und der dann das sagte, was damals ein Skandal war: „Deus sive Natura“ – Gott oder Natur.
Für Spinoza ist Gott nicht der alte Mann mit Bart, der im Himmel sitzt und die Welt regiert. Gott ist die Welt selbst. Alles, was existiert, existiert nicht neben Gott, sondern in Gott. Materie, Gedanken, Tiere, Menschen, Sterne – alles sind nur unterschiedliche Ausdrucksformen derselben göttlichen Substanz.
Damit verschwindet der Unterschied zwischen „heilig“ und „profan“. Kein Sonntagsraum, der Gott vorbehalten ist, während man den Rest der Woche im „normalen“ Leben verbringt. Wenn Gott = Natur ist, dann ist der ganze Alltag göttlich.
Freiheit und Notwendigkeit
Für Spinoza gibt es nichts Zufälliges. Alles, was geschieht, geschieht mit Notwendigkeit. Das klingt im ersten Moment brutal deterministisch: Wir sind keine freien Geister, die sich unabhängig von allem entscheiden. Sondern wir sind Teil der Natur, und die Natur läuft nach ihren Gesetzen. Punkt.
Aber echte Freiheit heißt für Spinoza nicht, tun zu können, was man will. Freiheit heißt, zu begreifen, warum man so ist, wie man ist – und sich mit dieser Notwendigkeit zu versöhnen.
Das Natrium reagiert mit Wasser, weil es in seiner Natur liegt. Der Mensch handelt, weil er Teil dieses Geflechts ist. Die Freiheit liegt nicht im Ausbrechen, sondern im Verstehen.
Natur als Spiritualität
Und hier wird Spinoza plötzlich ganz handfest. Wenn Gott die Natur ist, dann ist der einfachste Zugang zu Spiritualität nicht das Kirchengebet, sondern der Wald. Keine Liturgie, keine Priester, keine Predigt – sondern hinsitzen, schauen, begreifen.
Man kann das Meditation nennen, aber eigentlich ist es noch einfacher: Präsenz. Auf einem Ansitz sitzen, den Lauf der Sonne verfolgen, die Schatten länger werden sehen. Dem Wald zuhören, wie er atmet. Die Vögel, die lautstark protestieren, wenn der Fuchs durchs Unterholz zieht. Das Rascheln, das erst bedrohlich klingt, bis man erkennt, dass es nur ein Reh ist.
In solchen Momenten begreift man: Das ist kein „Zubehör“ zur Welt, das ist die Welt selbst. Und indem man sie wirklich sieht, nimmt man ihr göttliches Wesen in sich auf.
Handwerk als zweite Natur
Spirituell sein heißt nicht, barfuß im Morgentau zu hüpfen. Es heißt, das Göttliche dort zu erkennen, wo man gerade ist. Und das kann genauso gut die Werkbank sein wie der Hochsitz im Wald.
Im Handwerk zeigt sich die zweite Natur: Wir nehmen Holz, Metall, Stein – und fügen sie zu etwas Neuem zusammen. Eine Schraube, die zwei Platten verbindet, ist kein banales Stück Eisen, sondern Ausdruck eines Prinzips. In ihr steckt die Idee der schiefen Ebene, gewickelt auf eine Achse. Dasselbe Spiralmotiv, das sich im Aeskulapstab wiederfindet. Jedes Mal, wenn man eine Schraube eindreht, vollzieht man dieses uralte Prinzip aufs Neue.
Und wer mit Holz arbeitet, spürt es sofort: Das Material gibt vor, was möglich ist. Man kann nicht gegen die Maserung zwingen, ohne dass es bricht. Man muss die Natur im Werkstoff anerkennen, sich mit ihr arrangieren. Genau darin liegt das Spirituelle – nicht im Beherrschen, sondern im Verstehen.
Hacker-Ethik und Kant
Wer so auf die Dinge schaut, landet fast automatisch bei einer Ethik. Die Hacker-Ethik beruht auf nichts anderem, als das Wesen der Dinge zu erkennen. Hinzusehen, wie etwas funktioniert – ob ein Stück Code, ein Getriebe oder ein Atom – und daraus zu lernen. Nicht blind nutzen, nicht einfach konsumieren, sondern verstehen.
Genau das war auch Kants Gedanke: Handeln soll so beschaffen sein, dass es als allgemeines Naturgesetz gelten könnte. Nicht, weil ein Gott es befiehlt, sondern weil wir die Gesetzmäßigkeit selbst einsehen. Freiheit heißt dann: nicht gegen die Naturgesetze zu arbeiten, sondern sie bewusst zu leben.
Das ist Spiritualität mit Verstand. Der göttliche Funke ist nicht bloß in Tempeln oder Mythen zu finden, sondern in der Mathematik eines Zahnrads, in der Chemie eines Elements, im Holz, das sich unter dem Hobel biegt.
Fazit: Staunen als eigentliche Spiritualität
Am Ende läuft es immer auf Verantwortung hinaus. Wer die Dinge wirklich versteht – sei es die Natur, das Handwerk oder die Technik – kann sie nicht mehr achtlos behandeln. Denn im Verständnis liegt die Anerkennung: Jedes Atom, jedes Tier, jede Schraube trägt seine Würde. Und diese Würde verpflichtet.
Verantwortung heißt hier nicht nur, die Natur nicht kaputtzumachen, sondern auch, die Gesellschaft nicht zu zersetzen. Wer versteht, wie Systeme funktionieren, trägt die Pflicht, sie nicht zu missbrauchen. Hacker-Ethik, Kant und Spinoza treffen sich genau an diesem Punkt: Handle so, dass dein Tun das Gesetz der Dinge respektiert – ob in der Werkstatt, im Wald oder im digitalen Raum.
Und für mich persönlich bleibt da vor allem eins: das Staunen. Jedes Mal, wenn ich begreife, wie etwas funktioniert – sei es ein chemischer Prozess, ein Tier im Wald oder eine Maschine auf der Werkbank – ist es wie ein kleiner Moment der Offenbarung. Kein ferner Gott, der mir zuraunt, sondern das Göttliche selbst, das sich im Funktionieren zeigt.
Das Staunen hört nie auf. Und vielleicht ist genau das die eigentliche Spiritualität: nicht das Antworten-Haben, sondern das immer wieder aufs Neue Fragen und Sehen.
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