Zivile First Responder
In Zeiten zunehmender Gewaltlagen im öffentlichen Raum rückt eine Frage stärker in den Fokus: Was können vorbereitete Zivilpersonen tun, wenn ein sogenannter Active Shooter oder ein terroristischer Angriff Menschen bedroht?
Ziel dieses Artikels ist die sachliche Auseinandersetzung mit der Realität: In den ersten Minuten vor Eintreffen professioneller Einsatzkräfte können couragierte, gut vorbereitete Personen Leben retten – durch richtiges Verhalten, Kommunikation und medizinische Hilfe.
Bedrohung frühzeitig erkennen
Situational Awareness bedeutet Aufmerksamkeit ohne Paranoia – also das bewusste, wache Wahrnehmen der Umgebung, ohne sich in Angst zu verlieren.
Warnzeichen für eine potenzielle Bedrohung können sein: nervöses oder übermäßig zielstrebiges Verhalten, ungeeignete Kleidung (zum Beispiel ein langer Mantel bei Hitze) oder sichtbare Umrisse von Gegenständen unter der Kleidung, die auf eine Waffe hindeuten könnten.
Ungewöhnliches Verhalten zeigt sich etwa in Bewegungsmustern gegen den Strom der Menschenmenge oder in der fehlenden Reaktion auf plötzliche Ereignisse wie einen lauten Knall oder einen Schrei.
Ein typisches Beispiel: Eine Person mit großem Rucksack bewegt sich zielstrebig entgegen der Fluchtrichtung einer Menschenmenge. In so einem Fall gilt: beobachten, aber nicht direkt konfrontieren.
Ein hilfreiches Modell dafür ist der OODA-Loop (Observe – Orient – Decide – Act), entwickelt von John Boyd. Eine ausführliche Erklärung dazu folgt in einem eigenen Artikel.
Sicherheit für möglichst viele
Der erste und wichtigste Schritt ist der Eigenschutz. Nur wer selbst in Deckung ist, kann überhaupt sinnvoll agieren und andere unterstützen, ohne sich selbst zum zusätzlichen Risiko zu machen.
Wer ruhig bleibt und Verantwortung übernimmt, kann durch klares, bestimmtes Auftreten Führung ausstrahlen. In Paniksituationen suchen Menschen Orientierung – eine ruhige Stimme kann lebensrettend sein.
Sichere Orte zu identifizieren erfordert ein waches Auge: massive Wände, verschlossene Türen, Sichtschutz. Oft genügt es, sich nur aus der Sichtlinie zu bringen, um die Gefahr zu minimieren.
Besonders schutzbedürftig sind Kinder, ältere Personen oder Menschen, die orientierungslos wirken. Wer selbst handlungsfähig ist, kann diese Personen gezielt ansprechen und zur Mitnahme animieren – ohne sich zu übernehmen.
Die Phasen eines solchen Ereignisses lassen sich grob anhand des Farbschemas nach Jeff Cooper einteilen. Dieses Farbschema beschreibt keine äußeren Situationen, sondern den inneren Zustand – also das Mindset, in das man sich je nach Lage aktiv versetzen sollte.
Im weißen Zustand befindet sich jemand, der gedanklich völlig woanders ist: abgelenkt, unaufmerksam, im sogenannten „Schafmodus“. In diesem Zustand kann man auf Bedrohungen nicht sinnvoll reagieren. Dieser sollte nur zuhause in den sicheren vier Wänden eingenommen werden.
Gelb bedeutet: entspannte Aufmerksamkeit. Man ist wach, offen für Wahrnehmung, ohne sich in Alarmstimmung zu versetzen. Dies ist der empfohlene Grundzustand in der Öffentlichkeit.
Im orangenen Zustand erkennt man eine potenzielle Gefahr. Die Aufmerksamkeit richtet sich konkret auf eine Person oder Situation. Jetzt geht es um Bewertung und Vorbereitung: Was ist mein Auslöser für Aktion? Was mache ich, wenn sich die Lage verschärft?
Rot steht schließlich für aktives Handeln: Der Entschluss zur Handlung ist getroffen – sei es Flucht, Deeskalation oder Verteidigung. Jetzt zählt Entschlossenheit, kein Zögern mehr.
Wann und wie greife ich ein?
Am Anfang aller taktischen Überlegungen steht der Selbstschutz, unabhängig davon, welcher Gefahr man gegenübertritt. Die Gefährdung durch einen Angreifer hängt auch von der Entfernung ab: Ein gewaltbereiter Täter mit einem Messer ist für mich nur dann keine Bedrohung, wenn ich in 100 Metern Entfernung mit einem Scharfschützengewehr in Stellung liege. In weniger als sieben Metern aber ist er eine tödliche Gefahr, weil er diese Entfernung schneller zurücklegen und mit seiner Waffe wirken kann, als ein trainierter Schütze seine Waffe ziehen und in Anschlag bringen kann.
“Kein Plan ist so gut, dass er den ersten Feindkontakt übersteht.” – General von Moltke
Kommt es zu einem bewaffneten Einsatz durch eine Zivilperson, ist das Verhalten gegenüber der Polizei entscheidend. Selbst wenn man rechtmäßig gehandelt hat, kann man in der ersten Reaktion der Einsatzkräfte leicht als Täter wahrgenommen werden. Polizeiangehörige reagieren in Hochstresslagen auf unmittelbare visuelle Eindrücke – das bedeutet: Wer eine Waffe trägt oder sich unklar verhält, riskiert als Bedrohung eingestuft zu werden.
Deshalb gilt: Entwaffnung, Hände sichtbar machen, kein Rufen oder Erklären – sondern Gehorsam gegenüber den Anweisungen. Die Aufklärung, dass man geholfen hat, erfolgt später – durch ruhige Kommunikation, nicht im Moment der Eskalation.
Tip
Nach einem Messerangriff in einer belebten Einkaufspassage hat ein bewaffneter Zivilist den Täter überwältigt und die Waffe gesichert. Als die Polizei eintrifft, kniet er mit erhobenen Händen neben dem Angreifer – seine eigene Pistole liegt zwei Meter entfernt am Boden. Er spricht nicht, reagiert sofort auf alle Kommandos. Erst nachdem die Lage von den Beamten gesichert ist, kann er sich ruhig erklären. Durch sein diszipliniertes Verhalten wird er nicht als Bedrohung eingestuft – und kann als Ersthelfer weitermachen.
- Letzter Schritt: Einsatz der Waffe nur bei unmittelbarer, nicht anders abwendbarer Gefahr
- Identifikation: Klare Kommandos geben, sichtbare Hände, keine Tarnkleidung
- Verhalten gegenüber Polizei:
- Sofortige Entwaffnung (Waffe fallen lassen)
- Hände hoch, keine hektischen Bewegungen
- Gehorsam gegenüber Anweisungen – auch wenn man selbst geholfen hat
- Rechtliche Lage: Notwehr und Nothilfe, aber auch Irrtumsrisiken beachten (z. B. Friendly Fire durch Polizei oder andere Helfer)
Verwundetenversorgung unter taktischen Bedingungen
Das TECC-Phasenmodell (Tactical Emergency Casualty Care) gliedert die Versorgung Verletzter in taktischen Lagen in drei klar abgegrenzte Abschnitte. Es unterscheidet sich deutlich von zivilen Erste-Hilfe-Protokollen und legt besonderes Augenmerk auf Gefahrenlage, Priorisierung und Ressourceneinsatz.
Care under Fire – Diese Phase beschreibt die unmittelbare Gefährdungslage: Es wird geschossen oder ein direkter Angriff ist im Gange. Maßnahmen sind extrem begrenzt. Wichtig ist der Eigenschutz – nur wenn es ohne eigenes Risiko möglich ist, erfolgt eine Intervention. Die einzige durchführbare Maßnahme ist meist das Anlegen eines Tourniquets zur Blutstillung bei lebensbedrohlicher Extremitätenblutung. Kommunikation bleibt kurz, ruhig und funktional.
Tactical Field Care – Sobald keine akute Bedrohung mehr besteht oder man sich in Deckung befindet, beginnt diese Phase. Jetzt können lebensrettende Maßnahmen erfolgen: Blutungen stillen, Atemwege sichern, Atmung prüfen, Wärmeerhalt sicherstellen. Auch psychologische Betreuung spielt hier eine Rolle: Ansprechbarkeit prüfen, beruhigen, Überlebenswillen stärken. Wichtig: alles geschieht unter minimalem Ressourceneinsatz, mit improvisierten Mitteln, wenn nötig.
Tactical Evacuation Care – In dieser Phase steht die Vorbereitung auf den Transport im Mittelpunkt. Patienten werden lagegerecht positioniert, dokumentiert und zur Übergabe an professionelle Kräfte vorbereitet. Je nach Lage können hier auch weitere medizinische Maßnahmen erfolgen, z. B. Schmerzbekämpfung oder Reanimation. Kommunikation mit eintreffenden Rettungseinheiten ist entscheidend.
Ich habe selbst einen TECC-Kurs absolviert und kann bestätigen: Die Ausbildung ist praxisnah, intensiv und fokussiert auf die erste Hilfe unter realistischen Bedingungen – Stress, Dunkelheit, Lärm, simulierte Gefahr. Es geht nicht nur um Technik, sondern auch um das Mindset: ruhig bleiben, priorisieren, handeln. Wer denkt, ein Erste-Hilfe-Kurs sei ausreichend, unterschätzt die Anforderungen taktischer Lagen.
Das IFAK – Individual First Aid Kit
Das IFAK ist kein gewöhnlicher Verbandskasten. Es ist eine persönliche Notfallausrüstung, speziell konzipiert für lebensbedrohliche Verletzungen unter taktischen Bedingungen. Ziel ist es, mit wenigen, aber hochwirksamen Mitteln schnell eingreifen zu können – bei sich selbst oder bei anderen.

Ein vollständiges IFAK enthält typischerweise:
- Ein oder zwei Tourniquets (z. B. CAT oder SAM XT),
- Hämostatische Gaze oder Druckverbände zur Blutstillung,
- Chest Seals bei Thoraxverletzungen,
- Rettungsdecke,
- Einmalhandschuhe,
- ggf. ein Nasopharyngealtubus für Atemwegssicherung.
Tip
Wichtig: Das IFAK ist nur so gut wie die Fähigkeit, es unter Stress korrekt anzuwenden. Es gehört am Körper getragen – griffbereit, nicht im Auto. Und sein Inhalt sollte regelmäßig überprüft und im Training realistisch geübt werden.
Ein Blick auf Deutschland
Delikte mit Schusswaffen sind laut Bundeskriminalamt seit 2003 rückläufig – rund die Hälfte davon entfällt auf Wilderei. Heute stehen vor allem Messerangriffe im Fokus der Öffentlichkeit.
Auch wenn ich bei einem Angriff durch einen Täter mit Messer schlechte Chancen habe, so kann ich doch wirksam einem angegriffenen Passanten helfen, die Gefahr zu eliminieren – wenn ich vorbereitet bin, entschlossen handle und mich nicht selbst überschätze.
Im internationalen Vergleich zeigt sich: In Gefahrensituationen sind es häufig Menschen mit kulturellem Hintergrund aus dem angloamerikanischen Raum oder vom Balkan, die spontan eingreifen. In Deutschland hingegen wurde lange vermittelt, sich im Zweifel herauszuhalten und Hilfe anderen zu überlassen. Gleichzeitig wird die private Fähigkeit zur Selbstverteidigung eher eingeschränkt als gefördert. So bleiben trotz häufiger Messerangriffen das Tragen von entsprechender Schutzkleidung in der Öffentlichkeit für Zivilisten verboten.
Das hat Konsequenzen – für die gesellschaftliche Resilienz, aber auch für das individuelle Sicherheitsgefühl. Dabei bedeutet Wehrhaftigkeit nicht Aggressivität, sondern Vorbereitung, Verantwortungsbewusstsein und Handlungsfähigkeit.
Taktische Leitsätze
Einige bewährte Grundsätze helfen, taktisches Denken zu strukturieren – gerade in Stresssituationen. Nimm diese Leitsätze mit in Dein tägliches Entspannungstraining und visualisiere sie regelmäßig. Auch Kommandosoldaten wie z.B. die US Navy Seals verbringen einen großen Teil ihres Trainings mit Atemübung und Yoga, um ihre mentalen Fähigkeiten zu verbessern.

- Train how you fight. – Trainiere so realitätsnah wie möglich, damit dein Körper im Ernstfall abrufen kann, was dein Kopf nicht mehr aktiv denkt.
- Slow is smooth, smooth is fast. – Wer hektisch wird, macht Fehler. Wer ruhig bleibt, wird schneller ans Ziel kommen.
- Don’t go alone if you don’t have to. – Allein agieren ist gefährlich. Teamarbeit erhöht Sicherheit und Effektivität.
- Mission before ego. – Taktisches Handeln ist kein Ort für Heldentum. Auftrag und Menschenleben zählen, nicht das Ego.
Amateure üben, bis sie es können. Profis üben, bis sie es nicht mehr falsch machen können.
Persönlicher Hintergrund
Ich selbst bin bei der Feuerwehrals als First Responder für Herznotfälle. Wir sind keine Rettungswagenbesatzung, aber wir können Wiederbelebung durchführen und Defibrillatoren einsetzen. Unsere Werkzeuge gegen den plötzlichen Herztod sind Wissen, Technik und schnelle Reaktion. Als Jäger und Sportschütze besitze ich zudem legale Waffen und habe mehrere Kurse im taktischen Verteidigungsschießen absolviert. Über viele Jahre habe ich Krav Maga trainiert. Ich bin auch kein Polizist, aber ich bin überzeugt: Wenn es mehr Menschen mit dieser Kombination aus medizinischer Ausbildung, taktischer Schulung und mentaler Vorbereitung gäbe, könnten gefährliche Situationen früher erkannt, schneller entschärft und mehr Leben gerettet werden.
Gleichzeitig ist mir wichtig zu betonen: Eine Waffe allein – ohne Ausbildung und Mindset – erhöht eher das Risiko. Vorbereitung bedeutet Verantwortung. Nur wer beides mitbringt, kann in Extremsituationen richtig handeln.
“Every citizen should be a soldier. This was the case with the Greek and Romans and must be that of every free state.” – Thomas Jefferson
Weiterführende Literatur
- Henning Hoffmann: Feuerkampf und Taktik – Ein praxisnahes Handbuch für Schützen mit Interesse an realistischer taktischer Vorbereitung im zivilen wie dienstlichen Kontext.
- Andy Stanford: Surgical Speed Shooting: How to Achieve High-Speed Marksmanship in a Gunfight – Ein fundierter Leitfaden für präzises, schnelles Schießen unter Gefechtsbedingungen.
- NAEMT: Tactical Emergency Casualty Care (TECC) Guidelines – Offizielle Richtlinien zur taktischen Verwundetenversorgung, herausgegeben von der National Association of Emergency Medical Technicians (naemt.org).
- U.S. Department of Homeland Security: Active Shooter: How to Respond – Ein kompakter Ratgeber zur Verhaltensweise bei Amoklagen, frei verfügbar unter ready.gov.
- David Grossman: On Combat – Psychologische und physiologische Erkenntnisse über den Umgang mit Stress in gewaltsamen Konflikten – aus der Sicht von Soldaten, Polizisten und Ersthelfern.
- Greg Ellifritz: Active Killer Response (Blog & Kursunterlagen) – Erfahrungsbasierte Analysen und Empfehlungen zu Verhalten, Training und Ausrüstung für Zivilisten in Bedrohungslagen.