Was wir verloren haben
Vom Ende der deutschen Aufklärungskultur zur Gegenwart antisemitischer Bedrohung
Bei einem Empfang 1934 soll NS-Minister Bernhard Rust David Hilbert gefragt haben: “Wie steht es denn jetzt mit der deutschen Mathematik, Herr Professor?” Hilbert antwortete trocken: “Die gibt es nicht mehr.”
Wenn man einen Film wie A Serious Man schaut, dann bleibt einem das Lachen oft im Hals stecken. Und vielleicht ist das genau die Essenz jüdischen Humors: nicht aufzulösen, sondern offen zu lassen. Zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Ordnung und Zufall, Sinnsuche und Resignation. Der Humor fragt nicht nach dem Sinn. Sondern: “Na und? Wen juckt’s?”
Mich lässt diese Mischung aus Ironie, Schmerz und Klarheit nicht los. Und ich frage mich: Was hätten wir alles erreichen können – mit den Juden? Mit ihrer Denkweise, ihrer Debattenkultur, ihrer Wissenschaft, ihrem Witz? Stattdessen kam das größte geistige Verstummen, das dieses Land je erlebt hat.
Deutschland als Zufluchtsort
Mitte des 19. Jahrhunderts war man als Jude in Europa nirgendwo sicher – außer in Deutschland. Während in Frankreich, Russland oder Österreich noch pogromartige Zustände herrschten, etablierte sich hier eine jüdische Intelligenz, die die Aufklärung mittrug und voranbrachte. Philosophie, Medizin, Mathematik, Journalismus – ohne jüdische Stimmen kaum denkbar.
Götz Aly beschreibt in Warum die Deutschen? Warum die Juden? genau diese paradox wirkende Konstellation: Die Integration funktionierte – und gerade dadurch wuchs der Hass. Nicht aus religiöser Ablehnung, sondern aus Neid. Wer fleißig war, wer sparte, wer überdurchschnittlich gebildet war, machte sich verdächtig. Die neue Arbeiter- und Turnerbewegungen übernahmen dieses Ressentiment bereitwillig.
Und dieser Neid ist nicht verschwunden. Auch heute noch begegnet uns in der deutschen Volksseele eine tiefe Skepsis gegenüber unternehmerischem Erfolg, geistiger Brillanz und sozialem Aufstieg – vor allem, wenn er sichtbar, selbstbewusst oder nicht „typisch deutsch“ daherkommt. Wer gründet, gilt schnell als rücksichtslos. Wer Geld verdient, als verdächtig. Wer auffällt, als unangenehm. Es ist nicht mehr der Jude, auf den gezeigt wird, sondern der „Startup-Typ“, der „Intellektuelle“, der „Karrierist“. Die Stereotype haben sich verändert – das Grundgefühl ist oft dasselbe geblieben. Kabarettist Vince Ebert beschreibt diese deutsche Mischung aus Fortschrittsskepsis und Misstrauen gegenüber Unternehmertum regelmäßig mit feiner Ironie. Er hält der Gesellschaft den Spiegel vor und fragt: Warum feiern wir lieber das Scheitern als den Mut?
Die Vernichtung des Geistes

Als am 10. Mai 1933 auf deutschen Plätzen Bücher ins Feuer geworfen wurden – Werke von Heine, Freud, Einstein, Kästner, Tucholsky, Marx – war das kein Aufstand gegen „undeutsches Denken“, sondern der Moment, in dem sich Deutschland von der Aufklärung verabschiedete. Im Flammenlicht stand die Zukunft – und sie roch nach Asche. Wie sollte jetzt noch aus Menschen etwas Vernünftiges werden, die nicht mit Kästners grundanständigen Figuren aufgewachsen sind?
Die Shoah war mehr als ein industrieller Mord an Millionen Menschen. Sie war die bewusste Auslöschung eines kulturellen Beitrags.
Wer glaubt, man könne Einstein, Noether, Rosenzweig, Kafka, Benjamin, Tucholsky, Rathenau und all die anderen ausradieren und einfach weitermachen, hat das Wesen der Aufklärung nicht verstanden.
Hilberts Satz steht für diesen Verlust: Es gibt sie nicht mehr, die deutsche Mathematik. Weil es nicht mehr das Denken gibt, das sie hervorgebracht hat. Das kreative, widersprüchliche, tief bohrende Denken. Das Fragen, das Zweifel zulässt. Das sich selbst infrage stellt.
“Das Böse ist nie radikal, es ist nur extrem. Es hat keine Tiefe, kein dem Gedanken innewohnendes Böses. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche wuchert. Aber es hat keine Wurzeln.” – Hannah Arendt
Antisemitismus heute
Es ist tragisch und beunruhigend, dass in einem Land wie Deutschland jüdische Einrichtungen heute wieder unter Polizeischutz stehen müssen. Dass jüdische Schülerinnen ihre Identität verstecken. Dass Jüdischsein als Risiko empfunden wird.
Dabei kommen viele dieser Bedrohungen nicht aus der Mitte der Gesellschaft, sondern aus Milieus, die sich gar nicht erst in sie integrieren wollen. Wir haben erlebt, wie Antisemitismus importiert wird: mit Geflüchteten aus arabischen Regionen, in denen Hass auf Juden politisch und religiös gelehrt wird. Und ja, das darf man sagen. Man muss es sogar sagen.
Kritik ist nicht gleich Hass
Wer darauf hinweist, wird oft schnell in die rechte Ecke geschoben. Aber das ist falsch. Es geht nicht um Pauschalurteile. Es geht um das Benennen von Entwicklungen, die mit einer offenen Gesellschaft unvereinbar sind. Man darf Islamkritik nicht mit Hass auf Muslime verwechseln. Genauso wenig ist Kritik an der israelischen Siedlungspolitik automatisch antisemitisch.
Was wir brauchen, ist Differenzierungsfähigkeit. Kritik muss möglich sein, aber Hass ist keine Meinung. Die Linie verläuft dort, wo Menschen nur aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder Geschichte zur Zielscheibe werden.
Verantwortung heißt: Nicht wegsehen
Die Bundesrepublik Deustchland hat eine besondere Verantwortung. Nicht weil sie ein Schuldgefühl kultivieren soll, sondern weil sie das Projekt der Aufklärung fortführen muss. Wenn jüdisches Leben wieder bedroht wird, dann geht es nicht nur um Juden. Dann geht es um uns alle.
Denn mit dem Ende des deutschen Judentums kam auch das Ende eines deutschen Universalismus. Ein Verlust, den wir kaum begriffen haben. Was wir daraus lernen? Vielleicht das: Aufklärung ist kein Zustand, sondern ein ständiger Auftrag. Sie muss immer wieder neu erarbeitet, verteidigt, erklärt und übersetzt werden.
Und manchmal hilft ein Witz, das auszuhalten. Ein jüdischer Witz. Einer, der nicht erklärt, sondern offen lässt. Einer, der fragt: Und? Wen juckt’s?
Ja. Uns schon.
Quellen und Links
Aly, Götz. Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass, 1800-1933. Deutschland: S. Fischer, 2011.